Wusstest du, dass der Oktober ADHD (engl. für ADHS) Awareness Month ist? Ich wusste es lange nicht, bis ich vor einem Jahr – im Oktober 2021 – meine Diagnose bekommen habe.
Definition AD(H)S
ADHS ist die Abkürzung für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung [1] und gehört zusammen mit der Autismus-Störung zu den Spektrumstörungen. Das heißt, dass nicht jede*r Betroffene*r eine typische Ausprägung oder Symptomatik der Krankheit aufweist, sondern sich auf einem Spektrum zwischen leicht bis schwer befinden kann. Zu den häufigsten Symptomen zählen bei AD(H)S die Hyperaktivität (übersteigerter Bewegungsdrang, kann sich auch nach innen richten), Unaufmerksamkeit (gestörte Konzentrationsfähigkeit) und Impulsivität (unüberlegtes Handeln). Neben ADHS gibt es noch ADS, Betroffene weisen hier wenig bis kaum Hyperaktivitätssyndrome auf. In vielen Fällen tritt, gerade bei weiblich gelesenen Personen, die Mischform aus beiden Syndromen auf.
Mädchen mit ADHS werden übersehen
Ich habe mit 27 Jahren meine ADHS-Diagnose bekommen – und das, obwohl verschiedene Ärzt*innen unabhängig voneinander bestätigt haben, dass es bereits klar aus meinen Grundschulzeugnissen hätte rausgelesen und anhand meiner Schilderungen und der Schilderung meiner Eltern aus meiner Kindheit hätte erkannt werden „müssen“.
Mit dieser späten Diagnose bin ich leider nicht alleine, denn es werden „nur“ 5 % der weiblich gelesenen und 13 % der männlichen gelesenen Patient*innen mit ADHS (vornehmlich in der Kindheit/Jugendalter) diagnostiziert. [2] Verschiedene Studien [3] gehen davon aus, dass es daran liegt, dass sich die Symptomatik bei jungen weiblich gelesenen Personen anders äußert. Sie verhalten sich oft ruhiger, kehren Ihre Hyperaktivität mehr nach innen und bilden dadurch häufiger Komorbiditäten (Begleiterkrankungen) wie Angststörungen und/oder Depressionen aus und können der Auslöser für Persönlichkeitsstörungen wie Borderline sein.
ADHS und das Patriarchat
Ob das wohl mit dem Patriarchat zusammenhängt?
Weiblich gelesene Personen lernen früh, wie sie sich zu verhalten haben, was „richtig“ und was „falsch“ an ihnen ist. „Du darfst nicht zu laut, geschweige denn stürmisch sein“, „Du musst höflich und zuvorkommend sein“, „Du musst dich pflegen und hübsch sein“, „Du darfst nicht zu dick aber auch nicht zu dünn sein“.
Und natürlich leiden auch männlich gelesene Personen unter gesellschaftlichen Erwartungen, aber ich kann nur aus meiner Sicht als Frau sprechen und den damit verbundenen Schwierigkeiten meiner Diagnosegeschichte.
Achso und nebenbei musst du noch als „vollwertiges“ Mitglied der Gesellschaft heranwachsen und alle weiteren neurotypischen* Regeln befolgen.
*Als neurotypische Menschen gelten Personen, deren neurologische Entwicklung und Status mit dem übereinstimmen, was die meisten Menschen als normal bezüglich der sprachlichen Fähigkeiten und Sozialkompetenzen betrachten. – Kurz: „Normalos“ Quelle: Journal of Child and Adolescent Psychiatric Nursing, Aug 2006, viewed Feb. 27, 2007
Die Auswirkung von Masking bei ADHS
Wem das jetzt nicht klar ist: Dieses ständige Masking (verstecken der Symptome) ist ein ENORMER Druck – und dieser Druck sucht sich seine Ventile. Wie oben bereits beschrieben, oft durch Begleiterkrankungen. Ich kann zum Beispiel definitiv einen Haken hinter Depressionen, Angststörung, essgestörtes Verhalten und ausgeprägte Selbstzweifel machen.
Denn natürlich gehen die ADHS Symptome nicht einfach weg, nur weil man versucht, sich anzupassen. Ich hatte und habe sehr viele Probleme damit, mich zu organisieren, den Fokus auf die in dem Moment relevanten Themen zu legen, meine Emotionen zu regulieren und meine Bedürfnisse zu erkennen. Ich bin so oft über meine Grenzen gegangen, um es vor allem anderen Personen recht zu machen, weil ich mich mal wieder komplett verzettelt habe.
Oder aber ich stoße Menschen vor den Kopf, weil ich Dinge vergesse, die wichtig gewesen wären (Treffen, Informationen, Gegenstände, etc.). Dinge, die meinem Gegenüber das Gefühl von Wertschätzung und Respekt vermitteln, wenn ich daran denken würde – as im Umkehrschluss wieder dazu führt, dass ich mich schlecht fühle, weil ich es „einfach nicht hinkriege“.
ADHS ist teuer
Abgesehen von der emotionalen Ebene ist ADHS auch finanziell eine Belastung.
Wie viele Strafzettel ich schon bekommen habe, weil ich beim Parken entweder unaufmerksam war oder so unter Zeitdruck stand, dass ich im Parkverbot stehen „musste“ oder keine Zeit hatte, einen Parkschein zu ziehen – um nicht schon wieder zu spät zu sein, was wiederum wieder fehlende Wertschätzung vermittelt. Du siehst, es ist ein Kreis.
Und dieser Kreis ist für andere oft unsichtbar, was die Probleme Betroffener oft verstärkt.
Denn wir wollen ja reinpassen. Wir wollen die Aufgabe nach Schema F abarbeiten, unsere Termine im Griff haben und Dinge behalten, statt sie zu suchen oder zu verlieren. Wir wollen beim Gespräch mit dir den Faden behalten und dich ausreden lassen – und wir versuchen es, mit aller Kraft. Aber es geht eben nicht, jedenfalls nicht immer.
Und wenn man dann auch noch erst mit 27 eine Diagnose erhält, versteht man nicht, wieso man so ist und glaubt stattdessen bis dahin, dass man einfach nur nicht hart genug daran arbeitet, die Regeln befolgen zu können.
ADHS ist (auch) schön
Natürlich ist nicht alles schlecht daran, ADHS zu haben. Es gibt so viele Dinge, die ich daran liebe.
Ich bin zum Beispiel unfassbar begeisterungsfähig und schaffe es, das auch auf meine Mitmenschen zu übertragen. Ich finde Lösungen für Probleme, auf die andere so nicht gekommen wären. Ich kann Hyperfokus auf Aktivitäten entwickeln, was eine unglaubliche Stütze sein kann und sehr viel Spaß mit sich bringt. Ich hab mal fünf Stunden nur mein Badezimmer geputzt und es GELIEBT.
Ich habe ein ausgeprägtes „Out of the box“-Denken und je älter ich werde, desto weniger lasse ich mich darin von anderen limitieren. Ich fühle sehr stark – was natürlich auch manchmal problematisch ist, oft aber einfach schön.
Und damit meine ich sowohl Emotionen als auch körperliche Empfindungen. Ich liebe es, verschiedene haptische Erfahrungen zu sammeln und kann mich komplett in eine Situation fallen lassen, wenn die äußeren Reize es zulassen.
Außerdem sehe ich Dinge in der Welt, die andere oft nicht sehen, eben gerade weil ich so viel ungefiltert wahrnehme.
Alles hat immer zwei Seiten und ich versuche mich jeden Tag, jeden Monat – nicht nur im Oktober – daran zu erinnern, beides gleich wertzuschätzen. Denn ohne die negativen Dinge würde ich die positiven wohl weniger sehen.
Das kannst du für Menschen mit ADHS tun
Jede*r kann mir, kann uns dabei helfen, dass es leichter wird. Einfach indem du dir bewusst machst, dass mein Kopf anders funktioniert und Rücksicht nimmst.
Wenn du Menschen mit der Diagnose ADHS in deinem Umfeld hast, frag sie, was sie von dir brauchen. Definiert eure eigenen Regeln im Umgang miteinander. Sei dabei geduldig und hab im Kopf, dass die Person vielleicht noch gar nicht so gut weiß, was sie von dir braucht, weil sie bisher nur gelernt hat, sich den Bedürfnissen anderer anzupassen. Und wenn sie es doch weiß, umso besser.
Denk daran, dass es keine böse Absicht ist, wenn ein Termin verschwitzt wird oder du beim Sprechen unterbrochen wirst. Denn es kann, je nach Ausprägung (Spektrum!), eine unglaubliche körperliche Last sein, dem entgegenzuwirken.
Sei offen und hör hin, damit ist schon viel getan!
Selbstredend, dass dabei niemand über die eigenen persönlichen Grenzen gehen sollte. Aber sie im Bereich der Möglichkeiten anzupassen und zu verschieben, geht – glaub mir.
Wenn du es bis hierhin geschafft hast: DANKE! Ehrlich. Denn dadurch trägst du schon einen Teil dazu bei, um mir und anderen Betroffenen zu helfen – du informierst dich.
Teile das hier auch gerne mit anderen Menschen (egal ob digital oder im Gespräch), damit wir alle die Chance haben, ein bisschen besser (oder viel besser!) miteinander zusammenzuleben.
Lots of love von Inge (mein ADHS) und mir, Anna.
Titelbild: Alexander Grey, Unsplash